Ein digitales Produkt auf den Markt zu bringen, ist aufregend. Schliesslich könnte dein Projekt bald von Tausenden Menschen genutzt werden! Damit dein Traumszenario wahr wird, decke ich vier gefährliche Annahmen in Sachen User Experience auf, und zeige dir, wie du sie vermeiden kannst.

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1. «Wir brauchen unbedingt eine Plattform.»

Wenn es um Geschäftsideen geht, bekomme ich oft das Wort «Plattform» zu hören – das können Bildungs-, Sharing-, Miet- oder Eventplattformen sein. Die Idee verstehe ich gut – es scheint ein einfach skalierbares Geschäftsmodell zu sein, und es gibt zahlreiche erfolgreiche Beispiele wie Airbnb, Uber oder Booking.

In der Praxis sind Plattformen aber anspruchsvolle Projekte. Sie starten mit der Suche nach einem Bedürfnis, das noch nicht abgedeckt ist, und endet mit einer Plattform, die für dieses Bedürfnis tatsächlich eine Lösung mit Mehrwert liefert. Es gilt, Tausende von Nutzern auf die neue Plattform zu locken, und sie auch dort zu halten. Operativ sind solche Projekte oft aufwändiger als erwartet – dabei ist die technische Umsetzung tendenziell der kleinste Stolperstein. Fazit: Erfolg mit einer Plattform haben nur die wenigsten Unternehmen.

Tipp: Finde in Experimenten heraus, ob deine Plattform wirklich ein Kundenbedürfnis stillt, bevor du das Projekt gross aufrollst. Damit hältst du dein Risiko klein und gewinnst rasch wertvolle Erkenntnisse. So gehst du vor:

  1. Bewirb deine Plattform mit Social Media Ads so, als gäbe es sie bereits.
  2. Verlinke die Ads auf ein Formular. Darin schreibst du, dass die Plattform noch nicht bereit ist, und dass sich eintragen kann, wer interessiert ist.
  3. Versuche anschliessend, mit den Personen, die sich eingetragen haben, telefonisch in Kontakt zu treten. Frage sie, warum sie das Formular ausgefüllt haben, was sie sich vorstellen und was sie sich wünschen.
  4. Entscheide anhand der Rückmeldungen, ob genug Potenzial für ein Geschäftsmodell vorhanden ist, und starte weitere Experimente. Mehr Lektüre dazu: «Testing Business Ideas» von David J. Bland, Alexander Osterwalder.
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2. «Je mehr Funktionen, desto besser.»

Möglichst viele Funktionen in ein digitales Produkt reinzupacken, klingt zuerst einmal schlüssig. Damit können doch verschiedene Kundenbedürfnisse auf einmal abgedeckt werden. Und überhaupt: Kund*innen wollen ja möglichst viel für ihr Geld.

Ein Denkmodell, das tief in unseren Köpfen verankert ist. Dahinter steckt die Logik, mit mehr Funktionen mehr Menschen zu erreichen. Zugleich besteht die Befürchtung, Kund*innen durch zu wenige Funktionen wieder zu verlieren. Leider bewirkt das Resultat aber oft genau das Gegenteil. Aufgeblasene und überladene Produkte vertreiben die motiviertesten Kund*innen! Studien zu «Behavioral economics» zeigen, dass die Vereinfachung eines Produktes einen positiven Effekt auf seine Nutzung hat.

Tipp: Weniger ist mehr. Finde eine Nische. Lerne deine Nutzer*innen minutiös kennen. Widme dich ihrem grössten Bedürfnis. Löse dieses mit einem Produkt und mit einer einfachen Funktion. Teste dein Produkt mit realen Kund*innen. Baue ihre Feedbacks ein und starte weitere Experimente, mit denen du die Nachfrage online misst.

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3. «Wir kennen unsere Mitbewerber*innen genau.»

Vielleicht kennst du diese Situation: ein*e Marketingverantwortliche*r präsentiert in einem Meeting anhand eines Diagramms die Mitbewerbersituation. Die Person zeigt auf einen weissen Fleck oben rechts und sagt: “Dort müssen wir uns positionieren“ – und alle anderen nicken zustimmend.

In solchen kompetitiven Analysen fehlen oft die wahren Mitbewerber*innen. Es sind nämlich nicht nur Unternehmen in der gleichen Branche, die mit den gleichen Produkten auf dem Markt sind. Sondern es sind alle Lösungen, die deinen Kund*innen dabei helfen, ihr Problem zu lösen. Bei einer Messenger App zum Beispiel zählen dazu nicht nur andere Apps, sondern auch das Telefon, E-Mail, Social Media oder andere Kommunikationsmittel. Zudem können Bedenken (z.B. Datenschutz) oder Gewohnheiten (z.B. Trägheit) die User daran hindern, auf deine App zu wechseln.

Tipp: Befrage deine Zielgruppe, welches Ergebnis (Outcome) sie sich erhoffen. Lerne, nach welchen Erfolgskriterien sie die Relevanz eines Produktes beurteilen. Und finde anschliessend heraus, wie sie bisher vorgegangen sind (Alternativen). Aus den Feedbacks kannst du die Bedürfnisse nach Häufigkeit ordnen. Mehr zu diesem Thema findest du online unter dem Begriff «Customer Jobs».

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4. «Auf unser Produkt hat die Welt gewartet.»

Wir verlieben uns innig in unsere Produkte – und tappen dabei manchmal in die Bestätigungsfalle («confirmation bias»). Durch unsere selektive Wahrnehmung sehen wir unser Produkt als eine unwiderstehliche Lösung an, die folglich zu einem grossen Erfolg werden muss. Kaum ist unser Produkt aber auf dem Markt, realisieren wir, dass die Welt leider doch nicht auf unser Produkt gewartet hat.

Tipp: Beziehe deine Kund*innen aktiv in die Produktentwicklung mit ein. Es geht nicht darum, dass sie dir eine Lösung kreieren. Aber je mehr du ihre Bedürfnisse verstehst, desto besser kannst du dies in dein Produkt einfliessen lassen. Brauche dazu Methoden wie Kundenbefragungen, usability Testings, Experteninterviews, Zahlen aus Reportings und A/B Testings.

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